Vom Glanz der Schönheit
„Wenn ich Natürlichkeit sehen will, gehe ich in den Zoo.“ Das erklärte mir kürzlich ein gerade frisch aufgespritzter junger Mann. Ja. Ein Mann. Und er war sicherlich fast zehn Jahre jünger als ich. Also Anfang dreißig ungefähr.
Doch von vorne. An einem der ersten lauen Frühlingsabende dieses Jahr ging ich sehr inspiriert von einer Vernissage nachhause. Thema der Ausstellung „die nacht singt ihre lieder“ war die Schönheit von Geheimnissen. Den Geheimnissen der Nacht. Die Fotografien von asinellone zeigten vor allem das, was manchmal nur zu erahnen ist. Er ließ uns Betrachter mit seinen Fotos so wunderbar fühlen, dass wir oft nur Teile eines Ganzen erkennen können. Vielleicht, weil es schon dunkel ist. Oder weil er Ausschnitt und Perspektive des Bildes so wählte, dass man nur einen vielversprechenden Teil des Ganzen erkennen kann und beim Betrachten erlebt, wie sich unsere Fantasie eine Geschichte dazu ersinnt. Das Unvollkommene. Fotografien, die nicht alles aufdecken, sondern die uns weiterdenken und träumen lassen, die uns Raum geben für eigene Fantasien.
Auch die anderen Ausstellungsbesucher sind erfüllt durch die Leerstelle der poetischen Fotografien. Es ergeben sich Gespräche über die Werke und gehen darüber hinaus. Wir sinnieren über die Seele in der Kunst und die Vergänglichkeit von Schönheit. Mit diesen Gedanken spaziere ich durch den nächtlichen Frühling nachhause.
© asinellone
Ich komme nicht weit, denn fast schon an der nächsten Ecke begegne ich einem flüchtigen Bekannten und lasse mich zu einem spontanen Glas Aperol Spritz mit zwei seiner Freunde überreden. Warum nicht? Das Leben ist jetzt, zu schön, um nicht den Moment zu leben. Dennoch etwas seltsam – ich und drei junge Männer, die ich kaum oder gar nicht kenne. Einer der drei Männer freut sich besonders über eine Frau am Tisch, er setzt sich in Szene, plustert sich auf – ein bisschen wie ein Hahn, aber mit einem selbstironischen Augenzwinkern. Er strahlt. Schnell erfahre ich, dass er im Schweizer Bankenwesen arbeitet. Dann will er von mir wissen, wie ich sein Aussehen finde und erklärt dazu, dass er sich am selben Tag Frische in Form von Auffüllmasse unter die Augen spritzen ließ. Von seinem Freund. Er deutet auf den dritten jungen Mann am Tisch. Der Doktor. Der junge Banker ist aufgepuscht. Fast ein bisschen drüber – „druff“ wie mein Bruder das treffend nennen würde (das heißt so viel wie manisch, verzweifelt glücklich oder vielleicht irgendwie unter Drogen).
Ich glaube ihm nicht, denke, er witzelt und ist voll des kreativen Humors. Ich lache. Also zeigt er mir Beweise: Fotos auf denen er tatsächlich mit Nadeln und Spritzen im Gesicht auf einem Arztstuhl zu sehen ist. Und auch der dritte Mann am Tisch ist – mit Mundschutz und Arztkittel – auf dem Foto eindeutig als Arzt erkennbar. Langsam merke ich, dass die Geschichte doch zu stimmen scheint. Kann es aber für mich nicht einsortieren, weil er doch sicherlich erst um die dreißig ist. Da braucht es doch keinen Schönheits-Eingriff!
Der Banker will wieder von mir wissen, ob ich finde, dass er frisch und gut aussieht. Ich antworte ihm, dass er normal aussieht – ganz einfach auch, weil sich für mich die Attraktivität eines Menschen anders festmacht. Mir fehle der Vergleich zu seinem Aussehen vor dem Eingriff. So ganz kann ich das alles immer noch nicht glauben.
Also wischt er durch sein Smartphone auf der Suche nach einem neuen Foto: Es zeigt einen müden jungen Mann, dessen Augenringe und kleine Fältchen um die Augen Erschöpfung ausdrücken. „Ja, jetzt sehe ich den Unterschied.“ Endlich bestätigt in seiner neuen Schönheit springt der müde junge Mann auf, ruft uns zu, dass wir ihm bitte noch so ein alkoholisches Getränk bestellen sollen und geht auf die Suche nach neuen Zigaretten. Ganz ehrlich – würde er weniger Alkohol trinken und nicht so viel rauchen, wären die Augenringe sicherlich von alleine weg.
Während der aufgespritzte Jungspund nun also seinen Zigaretten-Nachschub besorgt, lasse ich mich in der Zwischenzeit von dessen ebenso jungen Mediziner-Freund über die Vielseitigkeit seines Berufes als ästhetischer Arzt aufklären. Ich erfahre, dass der Banker nun alle drei Monate solch eine Spritze benötigt, um die frische Wirkung aufrechtzuerhalten. Ich beginne mit ihm ein Gespräch über ästhetische Medizin, frage ihn, ob er auch solche Schlauchboot-Lippen spritzt, wie ich sie abstoßend oft wenige Wochen zuvor in der Naturidylle von Ibiza sehen musste. Er wehrt sich und erklärt mir leidenschaftlich, dass es genau darum gehe, eben nicht solche Lippen zu gestalten. Sein Ziel ist „künstlich erzeugte natürliche Schönheit“. Das Problem mit den Schlauchboot-Lippen sei, dass heutzutage jeder Arzt – sei es Zahnarzt, Haus- oder Hautarzt – Botox-Behandlungen und ähnliches anbieten würde. Diese Ärzte würden das aber lediglich zwei- bis dreimal pro Woche spritzen und nicht wie er täglich mehrmals. Es fehle also an Übung. Daher das schlechte Ergebnis.
Dann beginnt er zu schwärmen von den vielen Möglichkeiten ein Gesicht zu modellieren. Wie ein Maler zeichnet er mit seinen Händen Gesichtsformen in die Luft und erklärt, dass Patienten sich oft eine bestimmte Veränderung wünschen – zum Beispiel betonte Wangenknochen. Fälschlicherweise würden sie aber davon ausgehen, dass man direkt an dem zu korrigierenden Gesichtsmerkmal eingreifen müsse. Er jedoch wisse, dass es um die Harmonie des gesamten Gesichtes gehe. Zweifellos, der plötzlich vor Begeisterung aufblühende Mediziner hat ein ausgeprägtes Empfinden für Ästhetik. Und deshalb weiß er auch, dass es eben oft einen anderen Eingriff braucht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Beispielsweise einen Eingriff an der Nase, – oder war es das Kinn? - um die Wangenknochen zu betonen. Außerdem komme es noch auf das Füll-Material an – denn wer will harte Lippen küssen? Gerade Lippen sollten sich unbedingt so natürlich wie möglich anfühlen. Auch die Art, wie man die Spritze mit Füll-Material herauszieht, hat modellierende Wirkung. Seine Augen leuchten vor Begeisterung. Ich weiß in dem Moment, ich spreche mit einem Künstler, der Gesichter so vollkommen wie möglich umgestalten möchte. Es braucht einen ästhetischen Sinn und Freude an Schönheit, um mit solch einer Leidenschaft seinen Beruf auszuüben.
Da kommt unser Schönling wieder. Mit Zigaretten. Und trinkt schnell das nächste Glas Alkohol leer. Er klinkt sich in unser Gespräch ein. Als ich – aus Versehen – das Wort „Natürlichkeit“ mit Schönheit in Verbindung bringe, erklärt er mir sofort, dass er in den Zoo gehe, wenn er Natürlichkeit sehen möchte.
Weiter geht das Gespräch. Der Schönling ist sich sicher, dass Männer ihren Ehefrauen die Operationen oder Eingriffe zahlen – doch weit gefehlt. Der Mediziner klärt uns nämlich auf: Die meisten Frauen sparen heimlich die benötigten hohen Beträge an und zahlen diese dann in bar, damit die Ehemänner auf keinen Fall erfahren, dass ihre natürliche Schönheit und Frische überhaupt nicht ganz so natürlich ist. Es wird immer absurder. Was passiert denn mit diesen Menschen, wenn sie trotzdem älter werden? Wenn die Jahre doch langsam, aber unaufhaltsam über Gesicht und Körper wandern? Wenn das Aufspritzen alle drei Monate keine Wirkung mehr zeigt und die Schönheit irgendwann – trotz Spritzen und anderer Eingriffe – verblasst? An was halten sich diese Menschen dann fest, wenn so viel auf die äußere vergängliche Schönheit gesetzt wurde?
Irgendwann ist mein Glas ausgetrunken und ich lehne dankend ein weiteres ab. Als ich gehe, spüre ich die Blicke der drei jungen Männer in meinem Rücken. Sie inspizieren meinen Körper von oben bis unten. Wie ihre Bewertung ausfällt, ist mir egal.
Das Gespräch geht mir lange nach. Schönheit – was ist das eigentlich für mich?
Ich habe mir immer vorgestellt, dass die schönsten Erlebnisse und Gedanken, die man im Herzen bewahrt, wie Perlen in einer Muschel sind, die im Inneren leuchten. Uns erstrahlen lassen. Das ist für mich Schönheit. Ein Glanz, der von innen nach außen strahlt. Und ich glaube, dass es neben diesen Perlen gerade auch die Unvollkommenheiten, die Geheimnisse sind, die sich in Form von Sehnsüchten und Hoffnungen zeigen und uns Menschen erstrahlen lassen. Wie das Unsichtbare in den Fotos von „die nacht singt ihre lieder“.
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