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Sommerfrische

Sommerfrische

Dieses Jahr war ich – durch eine Reise durch Österreich im vorigen Sommer inspiriert – in „Sommerfrische“. Wie die Bourgeoisie im 19. Jahrhundert. Was für eine gute Idee! Aus der engen, heißen, kleinen Stadtwohnung zu fliehen, um im Grünen zu sein. Dort zu schreiben, zu wandern und mich wieder mit der Natur und mit mir zu verbinden. Die Erfahrung hat mir vor allem auch wieder bewusst gemacht, dass wir Menschen – trotz aller Rationalisierung und zunehmender Normierung – vor allem Naturwesen sind. Wir brauchen – wenn es schon nicht unser Alltag ist – regelmäßig Orte, die uns mit der Natur in Verbindung bringen und uns daran erinnern, dass wir Lebewesen sind. Momente, die auch unseren Bezug zu dem, was wir später essen, zurecht rücken. Und ich glaube, wir brauchen das Grün, um überhaupt wahrnehmen zu können. Mit allen Sinnen.

 

Meine Sommerfrische verbrachte ich an einem Ort meiner Kindheit. Viele Wanderungen durch den Wald führten mich dabei immer wieder an einem wunderschönen großen Hof vorbei, auf dem ich mich als Kind zuhause fühlte.

 

Erst am letzten Abend habe ich angehalten, denn draußen stand eine alte Frau. Ich ging fast vorbei, schaute nochmals hin, erkannte sie nicht. Und drehte doch um. „Frau Waimann?“ Sie antwortete sofort, wusste genau, dass ich eine von den vier Kindern war, die damals jahrelang in fast jeden Schulferien im Stall und auf dem Feld geholfen hatten. Sie habe mich am „Maul“ erkannt. Am Maul? Innerlich muss ich darüber lächeln. Ist ihre Wortwahl schwäbisch oder drückt sie ihre enge Verbundenheit mit den Tieren aus? Ich hätte die alte Bäuerin nicht mehr erkannt. Ihre Haare waren vor dreißig Jahren braun – außerdem trug sie im Stall immer ein Kopftuch. Jetzt war sie grau. Sie sei 84 Jahre alt, ließ sie mich gleich wissen. Ihr Blick war sehr wach, sehr präsent im Hier und Jetzt. Wie es ihr gehe? Naja. Haja. Nicht so. Ihr Mann sei vor fünf Jahren gestorben. Ja, das hätte ich gehört. Er sei sehr krank gewesen. Am Herzen.

 

Nachdem ich von meinen Geschwistern erzählt habe, bat mich Frau Waimann in die Bauernstube, wollte mir ein Foto von allen Enkeln zeigen. Mindestens zehn. Viele der jungen Frauen „schaffen“ auf dem Amt, eine studiert. Fortwissenschaft. Und jagt. Spannend. Da wäre ich gerne mal dabei. Ich stelle mir vor, wie diese junge zarte Frau mit einem Gewehr auf dem Hochstand sitzt, um Rehe, Wildschweine oder auch mal einen Fuchs zu schießen. Und gleichzeitig in einer Stadt zur Uni geht. Ihre Kommilitonen werden sich wohl kaum vorstellen können, was dieses Mädel noch für eine Welt in sich trägt. Während die anderen abends in der Disko tanzen, geht sie auf die Jagd. Ruft danach ihre Mutter an, damit sie ihr mit dem schweren Tierkörper hilft. Wie unterschiedlich Leben sein kann!

 

Frau Waimann ist sehr einsam. Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie alleine auf dem großen Hof. Einer ihrer Söhne kommt täglich morgens und abends vorbei, kümmert sich um das Vieh. Früher hatten sie Rinder im Stall – Milchkühe, die regelmäßig auch Kälber bekamen. Ein Stall mit ungefähr zwanzig Kühen. Sehr viel Arbeit. Jetzt sind ihre Rinder auf einer riesigen Weide – dort stehen sie den ganzen Sommer. Es ist eine andere Sorte als das im Schwarzwald typische Fleckvieh – es sind wunderschöne braune Kühe. Limousin-Rinder. Fleischvieh. Sie sind hellbraun mit kaffeefarbenen Augen. Jedesmal, wenn ich auf meinen Wanderungen bei ihnen vorbei kam, blickten sie mich sofort an. Neugierig, aber auch ängstlich. Aus großen Augen mit offenen Ohren. Voller Ruhe. So standen wir uns oft gegenüber.

 

Frau Waimann erzählt mir die Einzelheiten vom Tod ihres Mannes und zeigt mir ein Foto ihrer Goldenen Hochzeit – nur wenige Wochen vor seinem Tod. Er sieht blendend aus. Sehr fesch, auch mit fast achtzig Jahren noch. In hellem Anzug mit Weste und rotbraunen Schuhen. Schlank und braungebrannt.

Wir blicken aus ihrem Fenster. Auf das Vieh. Die eine Kuh müsse man im Herbst erschießen, sie sei sehr alt und würde leiden. An ihrem viel zu großen Euter. Sie hat in ihrem Leben vierzehn Kälber geworfen – das sei genug. Dann deutet sie auf den Bullen, der für die Deckung zuständig ist. Das sei sein erster Sommer, mal sehen. Sehr interessiert an einer Kuh ist er – diese sei brünstig, so Frau Waimann. Jetzt würde er die ganze Zeit bei ihr bleiben – bis genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Kuh und der Bulle berühren sich immer wieder vorsichtig mit den Schädeln, ohne sich an den Hörnern zu stoßen. Ein kleiner junger Stier schleicht von hinten um sie herum, bespringt die Kuh sogar einmal. Frau Waimann prophezeit einen Kampf zwischen den beiden Bullen. Sie nimmt am Leben ihrer Tiere teil und empört sich, dass Milchkühe heute bis zu vierzig Liter geben müssen. Das sei Ausbeute. Wie bei den Menschen. Natürlich geht es um Geld. Allein schon ein Schlepper würde an die hundertausend kosten. Verdrehte Welt. Auf ihrer Weide versorgen sich die überschaubar wenigen Tiere von selbst: sie decken sich selbständig, bekommen ihre Kälber selbständig und versorgen sich auch autonom. Nur im Winter kommen sie in den Stall – doch auch dort bewegen sie sich frei. Lediglich das Futter bekommen sie vom Menschen.

 

Im Hühnerstall herrscht plötzlich Aufruhr – wegen Caruso. Ich lache und frage, ob das ein singender Hahn sei. Es ist ein italienischer Hahn – deshalb Caruso. Ihr Sohn hat einen weißen Hahn gekauft. Das gefällt Frau Waimann nicht so. Die weißen seien nämlich oft aggressiv. Draußen springen junge und alte Katzen über den Hof. Eine trägt eine große, noch lebende Maus im Maul. Dieses Jahr gäbe es sehr viele Wühlmäuse. Richtig große.

 

Wir werden verstochen von Schnacken. Es wird regnen, sagt Frau Waimann. Immer, wenn der Nebel im Tal hängt, regne es. Links von uns ist schon der Mond aufgegangen. Fast Vollmond. Dann beginnt es tatsächlich zu regnen. Ich gehe nachhause. In Gedanken. Frau Waimann hat mich an ihrer lebendigen Welt teilhaben lassen. Ihre Welt, die sich vor allem um Tiere dreht. Um Tiere, das Wetter, die Pflanzen und den Boden. Alle sind Lebewesen für sie. Ich bin dankbar, dass solch eine Welt in meiner Kindheit einen Platz hatte und Spuren hinterlassen hat, derer ich mir manchmal kaum bewusst bin. Auch als Stadtmensch hatte ich so immer einen Zugang zu dieser besonderen Welt. Und immer wieder stelle ich mir die Frage, ob wir Menschen nicht vielmehr aufs Land und in die Natur gehören als in die vollgepferchte Enge der immer größer werdenden Städte? Vielleicht geht es aber überhaupt nicht um ein Entweder-Oder. Vielleicht können uns Momente in der Natur und Begegnungen mit Menschen wie Frau Waimann daran erinnern, Tiere und Pflanzen wieder bewusst als Wesen wahrzunehmen. Auch in der Stadt dankbar sein, wenn wir einem Hund, einer Katze oder einem Baum begegnen. Einem Lebewesen.

Kaum zurück in München stehe ich an einer roten Ampel, als mich wildes Kreischen von rechts ablenkt. Es ist ein LKW mit zwei Anhängern – voller Schweine, die panisch grunzen und quieken. Sie sind auf dem Weg zum Schlachthof – nur wenige Meter entfernt. Mir wird plötzlich ganz schlecht bei der Vorstellung, dass diese panischen Tiere geschlachtet werden, um unser anonymes Schnitzel zu werden. In dem Moment weiß ich, dass ich nie wieder unbefangen Fleisch unbestimmter Herkunft essen möchte. Zu groß ist die Schere zwischen diesen panischen Tieren neben mir und den entspannten Kühen auf der riesigen Weide im Schwarzwald.

 

Es gibt seit zwei Jahren offiziell einige Höfe in Deutschland, die das „Kugelschuss-Verfahren“ anwenden, das auch bei Waimanns praktiziert wird. Diese Tiere werden vom Bauern oder von einem Jäger auf ihrer eigenen Weide erschossen. Sie haben weder Angst noch leiden sie. Bis zuletzt sind sie Lebewesen. Man kann von diesen Höfen Fleisch kaufen. Anonymes Supermarkt-Fleisch von panischen Tieren voller Todesangst möchte ich nicht mehr essen. Ich möchte mich nämlich auch in der Stadt immer wieder daran erinnern, dass wir Natur sind und dass unser Essen ebenfalls ein Lebewesen war. Pflanze oder Tier. Auch deshalb hat diese Sommerfrische gut getan.

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Kommentare: 1
  • #1

    Sabine Gistl (Donnerstag, 30 August 2018 10:05)

    Liebe Deike,
    vielen Dank für diesen wundervollen und berührenden Text und Einblick in Frau Haimanns Leben. Genau so sollte es überall sein und ich wünsche mir, dass jeden Tag mehr Menschen so eine Begegnung mit ihrem Leben haben!