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Zwischen-Welten: Wenn Tote sprechen

Eine freie Erzählung nach wahren Begebenheiten. Den Verstorbenen zum Gedenken.

Zwischen-Welten: Wenn Tote sprechen

Das Feuer knisterte und knackste. Die Nacht war dunkel. Der Mond hinter den Wolken verborgen. Immer wieder flogen glühende Funken durch die kalte Luft. Sie starrte in das wärmende Licht und rückte einen kleinen Schritt näher an die wohltuende Hitze. Die Nächte im März waren noch klirrend kühl. Felicitas – so soll ihr Name sein – liebte diesen Geruch und atmete tief ein. Alle Sinne schienen aufzugehen. Die Wärme des Feuers und die Ruhe des Knisterns zogen in ihr Inneres ein. Sie genoss die Gesprächskulisse um sie herum. Sie fühlte sich aufgehoben. Geborgen. Sie mochte die Ritter, begeisterte Laien-Darsteller. Mit viel Leidenschaft und Hingabe lebten sie sich jeden Sommer in ihrer Freizeit in eine andere Zeit und Welt hinein. Jeden Freitag legten sie ihre Anzüge oder Jeans, Ansprüche und Gewohnheiten ab, um in Rüstungen und Gewänder zu schlüpfen, die sie während der Wintermonate hegten und pflegten. Dann wechselten sie in eine andere Rolle. In eine andere Identität, die es ihnen ermöglichte, die verborgenen Facetten ihres Seins zu erleben. Ein Höhepunkt dabei war ihr Einsatz als Kämpfer in der Massenschlacht der großen Ritterturnier-Show. Dafür trainierten sie das ganze Jahr und opferten dann all ihre Sommer-Wochenenden für Proben und Vorstellungen.

 

Belohnt wurde der ganze Aufwand durch das Erleben von Gemeinschaft - vor allem abends am Lagerfeuer. Alle liebten diese Momente. Wenn sich das ganze Sein auf die Wärme des Feuers konzentriert. Manchmal lauschten sie dabei einem Geschichtenerzähler, manchmal starrten sie einfach nur miteinander ins Feuer und spürten, wie sich der Tag im Inneren beruhigte. Diese Parallelwelt tat gut. Auch Felicitas. Obwohl sie sich immer klar von den Darstellern distanzierte. Für sie war es ein Job, den sie zwar liebte, für den sie jedoch nicht in eine andere Identität schlüpfen wollte. Schade vielleicht, eröffnete doch das klare Verlassen der sogenannten Realität den modernen Rittern neue Welten voller Möglichkeiten. Doch Felicitas hielt sich von dem Sog der Gruppen fern – zu groß war ihr Wunsch nach Autonomie, der in starkem Widerspruch zu der Vereinnahmung durch die Gemeinschaft stand. Sie empfand die militärisch anmutenden Strukturen innerhalb der Gruppen als erdrückend. Und die Art, wie sich die Neulinge erst hochdienen mussten, wirkte auf sie abstoßend. So wurde eine Gruppe wurde von zwei übergewichtigen älteren Alkoholikern geleitet, die es genossen, den jungen Anwärter-Mädchen auf den knackigen Hintern zu klopfen, sich ein Küsschen abzuholen und dann um noch mehr Wein zu bitten. Die Mädels machten mit. In Felicitas löste das Ekel aus, den sie versuchte zu verbergen. Denn sie brauchte die Gruppen für die Show, brauchte die Verlässlichkeit ihrer Hobby-Darsteller.

 

Felicitas blickte in das Feuer und ließ den Tag Revue passieren. Sie war zufrieden. Erstmals hatte sie einen Kampf-Workshop organisiert. Die Laien-Ritter waren hoch motiviert bei der Sache. Als Trainer hatte sie den schwarzen Ritter, heimlicher Held der Laien-Darsteller, einfliegen lassen. Felicitas hatte sich sehr für diesen Workshop eingesetzt – nicht nur, weil sie einen Bedarf an Grundlagen der Schaukampf-Technik sah und sie sich mit diesem Training eine glaubhaftere Darstellung in der Show erhoffte. Sie wollte damit vor allem auch die Darsteller noch weiter einbinden und in ihrer Selbstverantwortung stärken. Hier standen sie nicht unter der Fuchtel und Beobachtung ihrer alten Gruppen-Chefs – waren somit freier und formbarer. Es war Felicitas’ drittes Jahr bei den Ritterspielen – die Menschen waren ihr ans Herz gewachsen. Es war definitiv mehr als nur ein Job. Das wusste sie.

 

Ihre Gedanken wanderten weiter – zu Beate. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Beate gestorben war. Beate war eine der langjährigsten Helferinnen im Hintergrund der Ritterspiele gewesen. Ein Fan, der sich unterentbehrlich gemacht hatte. Sie lebte dafür, im Sommer ganz nahe bei ihren Helden zu sein – den französischen Stuntmännern. Nacht für Nacht wusch sie nach jeder Vorstellung die Hemden und Hosen der französischen Ritter. Und bügelte sie liebevoll am nächsten Morgen. Sie opferte sich auf. Zugleich waren die Ritterspiele aber auch ihre Oase. Ihr Lebenselixier. Sie schlief in einem Container im Backstage-Bereich. War mittendrin. Beate war übergewichtig – hatte sich einen Schutzpanzer angefressen, der ihr Innerstes verbarg. Einsam. Leidend. Und extrem mitteilungsbedürftig – vor allem in Bezug auf ihre Krankheiten. Man hielt sich deshalb gerne fern von ihr. Außer man brauchte etwas von ihr. Traurig.

 

Vor einigen Wochen hatte Felicitas einen Anruf erhalten. Von einer ehemaligen Kollegin Beates, die ebenfalls als Krankenschwester arbeitete. Da diese wusste, wie wichtig die Ritterspiele für Beate gewesen waren, hatte sie nach einer Nummer gesucht und war dabei auf Felicitas gestoßen. So erfuhr Felicitas die schreckliche Nachricht aus erster Hand. Man habe Beate tot in ihrer Wohnung aufgefunden, nachdem sie einige Tage nicht zur Arbeit erschienen war. Die Umstände ihres Todes waren ungeklärt. Die Polizei war mit den Ermittlungen beschäftigt, eine Autopsie sollte die Todesursache klären. Felicitas war geschockt. Die Kollegin berichtete weiter, dass Beate wohl nur eine Schwester als Hinterbliebene habe, mit der sie aber schon seit Jahren den Kontakt abgebrochen hatte. Diese Schwester würde nun alle Informationen zur Todesursache erhalten und man ging davon aus, dass sie sich mit einer anonymen Beerdigung für Beate begnügen würde. Felicitas bat die Kollegin beim Abschied, sie über weitere Erkenntnisse auf dem Laufenden zu halten. Beate habe zwanzig Jahre lang in Waremburg gearbeitet – es gäbe viele Menschen, die Anteil an ihrem Schicksal nehmen würden. Mit einem Anflug von großem Schuldbewusstsein legte Felicitas damals auf. Hatte Beate geahnt, dass Felicitas ihr den Lebensinhalt – die Ritterspiele – nehmen wollte? Felicitas hatte sich nämlich über die unprofessionellen Abläufe der Ritterspiele geärgert und wollte das unbedingt ändern. Dazu gehörten auch Personen wie Beate, die langsam, träge und leidend war. Oft mehr eine Bürde, denn eine aktive Mitarbeiterin. Deshalb hatte sie Beate ersetzen wollen. Felicitas spürte tiefe Reue. Gleichzeitig war sie aber auch geradezu erleichtert, dass Beate diese Schmach – eine Zurückweisung aus Waremburg – nicht mehr erleben musste. Wahrscheinlich hätte ihr dies das Herz gebrochen.

 

„Habt ihr von Beate gehört?“ fragte sie in die Runde. Die Ritter unterbrachen ihre Gespräche. Jeder hier kannte Beate und die meisten hatten von ihrem Tod erfahren. Felicitas hatte Neuigkeiten, denn wenige Tage zuvor hatte Beates Kollegin wieder angerufen. Beate sei an den Folgen einer unbehandelten Entzündung am Fuß – in Zusammenhang mit ihrer Diabetes – gestorben. Außerdem wolle Beates ominöse Schwester eine Beerdigung im engsten Kreise organisieren – weder Kollegen aus dem Krankenhaus noch aus Waremburg seien willkommen. Sie wolle wohl für ihre ungeliebte Schwester möglichst kein Geld ausgeben. Alle waren betroffen. Beate hatte dazugehört. Die Ritterspiele waren doch sehr viel mehr als eine rein professionelle Veranstaltung. Es ging hier vor allem auch um Menschlichkeit. Die Gruppen integrierten Menschen. Die unterschiedlichsten Menschen. Auch Menschen, die nicht passgenau waren. Menschen, die komisch, anders, kompliziert oder wie auch immer waren. Wieder spürte Felicitas nagende Schuldgefühle. Sie hätte Beate und auch den Ritterspielen unrecht getan, sie auszuschließen. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Sie standen um das Feuer und dachten gemeinsam an Beate. Gedachten ihrer.

 

In diesem Moment spürte Felicitas plötzlich ihr Handy in der Tasche vibrieren. Komisch, normalerweise merkte sie das nie. Normalerweise hätte sie in dieser Situation auch nicht weiter darauf reagiert, doch ein starker Impuls ließ sie jetzt sofort nach dem Telefon greifen. Ein Blick auf das Display und sie erstarrte. Eine SMS. „Beate,“ flüsterte sie lautlos. Alle starrten sie an. Felicitas blickte in die ungläubigen Gesichter, sah dann erneut auf ihr Handy und wiederholte: „Eine SMS. Von Beate.“ Sie spürte einen Schauder und bemerkte, dass es den Rittern genauso erging. Beate. Gerade hatten sie von ihr gesprochen. „Was steht drin?“ fragten die Ritter. „Nichts...“ antwortete Felicitas: „Eine leere SMS.“ Ratlosigkeit. Unglauben. Und absolute Verwunderung. Dann wurden einige Stimmen laut: „Ruf zurück!“ „Ja, ruf dort an!“ bekräftigten immer mehr Ritter diesen Wunsch. Felicitas zögerte noch. Gedanken flogen ihr durch den Kopf – wer hatte wohl jetzt das Handy von Beate? Warum wurde ausgerechnet sie angerufen und warum – um Himmels willen – ausgerechnet jetzt in diesem Moment? Immer mehr Ritter bestürmten sie zurückzurufen. Wer würde wohl rangehen? Felicitas zögerte noch immer. Bis einer der Ritter ihr entschlossen das Handy und somit die Entscheidung aus der Hand nahm. Er drückte auf Anruf und überreichte ihr dann das Telefon. Felicitas lauschte in das Klingeln hinein. Um sie herum hielten alle den Atem an. „Jaaaaa?“ kam es stockend aus dem Telefon. „Wer ist da?“ fragte Felicitas. Schweigen. Felicitas versuchte ruhig zu klingen, als sie der Frauenstimme am Telefon erklärte, dass sie gerade eine SMS von dieser Nummer erhalten habe und deshalb zurückrufe. Verwirrt antwortet ihr die Fremde, dass sie die SMS aus Versehen gesendet habe. Felicitas spürte, dass die Frau genauso verunsichert war wie sie selbst. Also fragte sie die Frau, ob sie eine Beate kenne. Stille. Bis nach einer gefühlten Ewigkeit die erlösende Antwort kam: „Beate war meine Schwester.“ Felicitas stockte der Atem. Sah, wie die Ritter sie alle anstarrten. Und wurde auf einmal ganz ruhig. Das, was gerade geschah, war kein Zufall. Konnte kein Zufall sein. Sie erklärte der Schwester, dass sie eine Kollegin aus Waremburg sei und gerade diese leere SMS von Beate bekommen habe. Felicitas erzählte ihr außerdem, dass sie gerade mit allen Rittern hier am Feuer versammelt sei und sie in genau diesem Moment von Beate gesprochen hatten.

 

„Beate,“ murmelte die Schwester. „Das war Beate.“ Dann fasste sie Mut und erzählte, dass sie vor wenigen Tagen die Ergebnisse der Autopsie erhalten habe und daraufhin schleunigst die Wohnung von Beate zu räumen hatte. Sie musste in absoluter Eile entscheiden, was sie von ihrer entfremdeten Schwester behalten wolle. Wahllos hatte sie nach Dingen gegriffen. Darunter war auch Beates Handy. Sie hatte alles in eine Tasche geworfen und seither nicht mehr hineingeschaut. Bis heute. Denn gerade habe das Handy gepiepst. Der Akku war leer. Irgendwo in der Tasche mit Beas letzten Sachen fand sie Handy und Ladekabel. Als sie das unerträglich piepsende Handy endlich zum Laden an die Steckdose schloss, erschrak sie zutiefst, als sie merkte, dass sie aus Versehen auf die Tasten gekommen war. Was sie nicht ahnte, war, dass sie eine SMS verschickt hatte. An Felicitas. Die im selben Moment mit den Rittern in Beates geliebtem Waremburg um ein Feuer stand und von der Verstorbenen sprach.

 

Felicitas holte tief Luft. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihre Stimme wurde voller, tiefer und sicherer. „Es ist absolut ungewöhnlich, dass wir uns im März sehen. Eine Ausnahme. Und genau in diesem Moment kommt eine leere SMS von Beate. Das kann doch kein Zufall sein...“ – „Nein,“ pflichtete ihr die Schwester bei, „das ist Beate.“ Einige Zeit herrschte Schweigen am Telefon. Beates Anwesenheit füllte diese Stille aus. Felicitas entfernte sich langsam vom Feuer und bemerkte den veränderten Tonfall in der Stimme der Schwester, als diese sie bat, ihr mehr von Beate zu erzählen: „Wir hatten so lange keinen Kontakt mehr.“ In ihrer Stimme lag kein Bedauern, es war eine Feststellung, doch gleichzeitig schwang nun ein liebevolles Interesse darin mit. Felicitas erzählte der Schwester, dass Beate in Waremburg voller Hingabe im Backstage-Bereich gearbeitet hatte. Sprach davon, wie sehr sie die französischen Stuntleute und das Ritterturnier geliebt habe. Beate hatte immer für alle gesorgt: Bei ihr gab es für alle frischen Kaffee, Mitgefühl und einen ruhigen Ort zum Ausruhen. Plötzlich sprudelte es aus Felicitas heraus. Sie entdeckte selbst so viele wertvolle Seiten an Beate, die ihr vorher entgangen waren. „Ich glaube,“ resümierte Felicitas nach dem langen Bericht, „irgendwie hat sie für diese paar Wochen in Waremburg gelebt.“ – „Ja. Ich glaube auch,“ stimmte ihr die Schwester zu. „Das alles wusste ich gar nicht von ihr.“ Sie gestand Felicitas, wie sehr sie die Nachricht von Beates Tod verärgert hatte: Beate hatte sich mal wieder einen völlig falschen Zeitpunkt ausgesucht. Selbst zum Sterben. Die Wut darüber hatte die Trauer über den Tod der Schwester überdeckt. Aus Rache hatte sie sich für eine kleine, möglichst günstige Beerdigung entschieden. „Aber Beate will es anders. Deshalb hat sie sich gemeldet,“ schloss die Schwester mit ruhiger Stimme. Sie beide wussten, dass dies der letzte Moment mit Beate war. Es war ihr Abschied. Ein Abschied in Frieden. „Wir sind alle zur Beerdigung eingeladen," teilte Felicitas den Rittern mit, nachdem sie aufgelegt hatte.

 

Seither glaubt Felicitas, dass die Toten durchaus mit den Lebenden sprechen können. Wenn diese bereit sind zuzuhören. Als würden die Verstorbenen Zwischen-Welten durchschreiten, aus denen sie den Lebenden noch letzte Botschaften zurufen können. Diese Erfahrung hatte die Tore in Felicitas geöffnet – zu einer anderen Welt. Ist sie real? Oder Fantasie? In jedem Fall ist es eine Welt, die sehr viel größer und weiter ist als ihre bisherige.

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