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Kunst und Kultur. Teil 1: Eine Liebeserklärung

Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio - The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148809
Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio - The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=148809

Kunst und Kultur. Teil 1: Eine Liebeserklärung

Kunst und Kultur sind für mich ein Herzensthema, über das ich schon lange schreiben möchte. Versuchen, mein Verständnis von Kunst – im weitesten Sinne – in Worte zu fassen. Es fällt mir nicht leicht über das zu schreiben, was mir Lebensinhalt, Energiequelle und Arbeit zugleich ist. Wie das in Worten ausdrücken, was so vage erscheint, was sich auch im Laufe des Lebens mit Kunst und Kultur immer wieder verändert? Immer wieder habe ich diesen Text vor mir hergeschoben und bereits die unterschiedlichsten Versionen davon angefangen. Nun habe ich mich entschieden, den Weg und die Fragen selbst als Ziel zu nehmen, um mich so dem Thema zumindest anzunähern. Die Klarheit entsteht häufig aus dem Schreiben heraus.

 

Was ist Kunst? Eine Frage, die wohl alle Kulturschaffenden im Laufe ihres Lebens regelmäßig beschäftigt und deren Antwort sich im Laufe der Zeit sicherlich auch wandelt. Es ist eine unendlich große Frage und gehört zu den essentiellen Fragen – wie die Frage nach Liebe, Gott oder den Sinn unseres Lebens –, die das Leben eines Künstlers umtreiben. Mit dem Verständnis von Immanuel Kant oder Friedrich Schiller über die Ästhetik habe ich mich im Studium auseinandersetzt. Dazu gehörten auch sehr komplexe Denker, wie beispielsweise Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie und seinem Werk „Die Kunst der Gesellschaft“. Kunst ist für Luhmann nichts als die Art, in der Kunst kommuniziert wird, Kunst ist ein Kommunikationssystem. „Wenn wir", sagt Luhmann, „Verdichtungsbegriffe wie ,Beobachter', ,Betrachter', ,Künstler', ,Kunstwerk' usw. verwenden, sind deshalb immer nur Kondensate des Kommunikationssystems Kunst gemeint, gleichsam Sedimente einer Dauerkommunikation, die mit Hilfe der so festgelegten Rekursionen vom einen zum anderen findet. Künstler, Kunstwerke etc. haben im Prozeß der Autopoiesis von Kunst eine Strukturfunktion. Sie bündeln Erwartungen." Faszinierend bei Luhmann ist für mich seine Abstraktionsfähigkeit, die "Beobachtung zweiter Ordnung". Für ihn ist ein Künstler beispielsweise lediglich eine Verdichtung innerhalb eines Systems. Mir gefällt diese Vorstellung, weil sie die gesellschaftliche Bedeutung des „Systems Kunst“ betont und von einer großen Verantwortung auch des Zuschauers ausgeht.

 

Später kamen viele weitere Künstler hinzu, deren Gedanken über Kunst mich fasziniert und auch inspiriert haben. Immer wieder versuchen Künstler, das eigene Verständnis von Kunst, Kultur, Schönheit und die Bedeutung für das persönliche und gesellschaftliche Leben in Worte zu fassen. Auch mich beschäftigt diese Frage bei jedem neuen Projekt, bei jeder Vorstellung, ob als Zuschauer oder als Beteiligte hinter den Kulissen. Es ist, als suche ich den inneren Wegweiser dessen, was Kunst ausmacht. Gleichzeitig treibt mich aber auch der Wunsch dazu, den Wert von Kunst für das Individuum und unsere Gesellschaft herauszuarbeiten. Zu benennen. So, wie Geld in unserer Gesellschaft symbolisch Werte benennt. Etwas greifbar machen, was zutiefst innerlich ist. Und vielleicht brauchen wir genau dafür die Kunst, um immer und immer wieder aufs Neue unseren großen menschlichen Fragen nachzugehen – diese aus unserer jeweiligen persönlichen, gesellschaftlichen, politischen Gegenwart immer wieder neu zu stellen und unsere eigenen Antworten darauf zu finden. Was ist Kunst? Das ist sozusagen die Sinnfrage der Kunst. Die Frage nach dem Warum ist darin enthalten. Warum tun wir das, was wir tun?

 

Präkolumbianische Kunst aus Gold
Präkolumbianische Kunst aus Gold

Um es vorweg zu nehmen: Kunst ist für mich die Seele unserer Gesellschaft und die Kulturschaffenden sind wie die Priester, die sich um die Seele unserer Gesellschaft kümmern. So, wie wir möglichst unsere eigene Seele pflegen sollten, so sollten wir auch die Seele unserer Gesellschaft pflegen. Die Menschen, die sich in unserer Gesellschaft um die Pflege der Seele kümmern, sind eben die Priester unserer Gesellschaft, denn sie kümmern sich um die Seele des Ganzen. Die Seele unserer Gesellschaft. Mir gefällt die Vorstellung, dass es eine kollektive Seele gibt. So sind die allabendlichen Vorstellungen in einem Theater sozusagen die Pflege der kollektiven Seele. All die Tänzerinnen und Tänzer zum Beispiel, die tagtäglich ihren Körper in Form halten, gymnastizieren, trainieren – sie vollbringen in meinen Augen wichtige Friedensarbeit. Genauso wie jeder Sänger oder Musiker, der seine Stimme oder sein Instrument täglich pflegt und abends zur Vorstellungen ins Theater geht, sein Leben, jeden einzelnen Tag danach ausrichtet, für Schönheit und Frieden sorgt. Wir nehmen das oft als gegeben und vergessen dabei manchmal, wie essentiell das Wohlbefinden unserer Seele für die Gesellschaft ist.

 

Die Arbeit von Künstlern hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Auf die Zuschauer, auf die Stadt, auf das Land. Die Menschen im Theater – ob auf der Bühne, hinter den Kulissen oder im Zuschauerraum – widmen sich der Kunst. Mit ganzer Kraft und aus ganzem Herzen. Kunst und Kreativität benötigt viel Aufmerksamkeit, Zeit und Raum. Es ist eine Lebenshaltung. Um kreativ schöpfen zu können, braucht es die Pflege des Instruments – sei es des Körpers, der Stimme oder des Geistes. Es braucht Bewegung, gesunde Ernährung, Inspiration und vor allem ein Denken, das offen und wach bleibt. Kunst fordert Bewusstsein und Bewusstheit – sowohl vom Künstler als auch vom Betrachter oder Zuschauer. Und unsere Gesellschaft braucht Bewusstheit.

 

Kunst und Kultur sind sehr viel mehr als Ablenkung oder Flucht aus der Realität, es ist ein zentrales Element unserer Gesellschaft. Kunst lässt Raum für alle Facetten des Menschseins. Für die Schönheit, für Formvollendetheit, aber auch für die Abgründe, die dunklen Seiten unserer Menschlichkeit, die wir so gerne verbannen und ablehnen. Kunst bietet einen Verhandlungsraum für menschliche Konflikte, für unser Suchen, für das Benennen und Anklagen von gesellschaftlichen Missständen. Kunst kann und darf das benennen, was wir tabuisieren. Kunst kann Frieden schaffen und das verbinden, was wir so gerne trennen. Kunst ist wie ein weiter Raum für die Fülle unserer gesamten Menschlichkeit. Solch einen Ort zu haben, hat einen unendlichen Wert. Für die gesamte Gesellschaft. Wir müssen nämlich nicht selbst in den Krieg ziehen, um Konflikte zu lösen, denn es gibt einen Ort, an dem dies – für uns alle verhandelt und ausgelebt wird. Ein Ort, in dem wir unsere Menschlichkeit in aller Offenheit ausdrücken können. Das Theater, das Gemälde, die Performance gibt aber nicht nur dem Künstler selbst, sondern gerade auch dem Zuschauer die Möglichkeit, sich in seiner Menschlichkeit weiter zu erleben. Und ist nicht vielleicht sogar das Erfahren unseres Menschseins Sinn und Zweck unseres Lebens überhaupt? Kunst kann uns widerspiegeln, kann auch Grenzen im Kopf aufbrechen und bietet die Möglichkeit, alle Extreme in einem Raum zu entwickeln – ohne tatsächlich Krieg, Gewalt oder Tod nach sich zu ziehen.

 

© Charles Tandy
© Charles Tandy

"You use a glass of mirror to see your face; you use works of art to see your soul,“ so beschreibt George Bernard Shaw Kunst. „Du nimmst einen Spiegel, um dein Gesicht zu sehen; du nimmst ein Kunstwerk, um deine Seele zu sehen.” Kunst kann nämlich noch viel mehr sein: Manchmal erleben wir in der Kunst regelrecht Sternstunden: Transzendenz (das „Übersteigen“) – wie mein persönlicher Lieblingsdenker, der Mythologe Joseph Campbell die Bedeutung von Kunst definiert. Man könnte auch von „Heiligkeit“ sprechen. Im Sinne von „heil sein“, also im wörtlichen Sinne „ganz sein“. Eine sehr tiefe Verbundenheit. Ein vollkommenes Erleben unserer menschlichen Unvollkommenheit. Diese Transzendenz suche ich, wenn ich im Theater bin. Der Tanz ist für mich dabei die künstlerische Form, die diese Transzendenz in Verbindung mit Musik am deutlichsten zu erschaffen vermag. Ohne Worte. Kunst ist für mich ein heiliger und zutiefst sinnlicher Raum.

 

Dem Erschaffen und Erleben von Kunst geht viel Hingabe und auch Beharrlichkeit vorweg: das Erarbeiten eines Konzepts, einer Geschichte, manchmal von außen angeregt, manchmal aus dem Inneren hervor drängend – immer wieder auch in Form einer Inspiration, einer Eingebung, einer Fügung von unterschiedlichen Elementen, einem Fluss gleich. Manchmal auch in Form eines schon „Da-Seins“, das nur in Worte, Bilder, Klänge, Bewegungen gebracht werden muss, wie das Pflücken eines reifen Apfels. Das Entstehen von Kunst fordert Zeit und Aufmerksamkeit, Ausprobieren und Suchen ein. Ohne immer genau das Ziel zu kennen. Kunst benötigt unendliches Vertrauen in die eigene Intuition. Umso mehr, als unsere Gesellschaft anderen Werten, wie Sicherheit, Konsum, Wohlstand eine unbestrittene und hart verteidigte Priorität einräumt. Ein Beispiel durfte ich jüngst selbst begleiten: Die Entstehung der neuen Ballett-Kreation von Peter Leung für die Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Junior Balletts München. Eine berührende Erfahrung.

 

Untrennbar mit der Frage nach der Kunst verbunden ist auch die Frage nach dem Wert von Kunst und damit wiederum die Frage, nach welchen Kriterien wir in unserer Gesellschaft be-werten. Was hat in unserer Gesellschaft welchen Wert? Welchen Wert geben wir unserer Gesellschaft? Für mich gehören all diese Fragen zu der Frage nach der Kunst und ihrem Platz in unserer Gesellschaft. Eine abschließende Antwort gibt es nicht, doch sich diesen Fragen anzunähern, erscheint mir sehr wichtig in einer Gesellschaft, die sich gerade in einem unglaublichen Tempo wandelt. Für Robert Schumann bedeutet Kunst „Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens zu senden“. Ich finde dieses Bild wunderschön. Kunst kann unsere Herzen erleuchten und uns mit einem Glanz umhüllen. Kunst kann den Glanz unserer Menschlichkeit hervorzaubern und uns immer wieder daran erinnern, wie wunderbar es ist, in diesem Leben Mensch zu sein. Kunst ist all das und noch viel mehr.

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Kommentare: 2
  • #1

    Ernst Lipps (Freitag, 03 Mai 2019 02:37)

    Kunst ist etwas zutiefst Menschliches, meine ich. Und nein, ich werde nicht so schreiben, als ob der Eindruck entstünde, besser schreiben oder erklären zu wollen, als es die Deike Wilhelm macht. Ich besitze auch keine Ambition, das Wort definieren oder darlegen zu müssen, wozu auch. Ist ein Termitenbau oder ein Vogelnest Kunst? Frau Wilhelm benutzt Begriffe wie Liebe, Gott, Sinn des Lebens, Seele, Licht. Ist ein Fahrrad Kunst? Was soll das Wort? Ich gestehe, ich habe meine Probleme mit diesem Begriff, weil er mir muffig vorkommt, alt, abgewetzt. Und gleichzeitig verboten schön. Ich vermute mal, dass das Streben von uns Menschen, mit Kunst in Berührung zu kommen, oder sein Leben der Kunst zu widmen, der mehr oder weniger gelungene Versuch sein könnte, das Wissen um die eigene Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit zu besänftigen - eine Konsequenz der Angstbewältigung, genauso wie Geldhorten. Warum malt ein Maler wie Vincent van Gogh wie besessen seine Sachen, um in seinem ganzen Leben nur ein einziges Bild zu verkaufen und das für ein Nichts? Weil er ein Mensch ist, lautet die simple Antwort. Kein Vieh würde das machen. Und jetzt, wo er tot ist, da hat er auch nichts mehr davon, andere schon. Nur ein Mensch macht solche idiotischen Sachen, behaupte ich. Und das hat was mit seinem Denken, Fühlen, Handeln zu tun, kurz, mit seine Seele. Frau Wilhelm, Sie haben Recht!

    Kunst, so was können nur Menschen oder Roboter verbrechen. Weil sie so konstruiert sind. Eine Kuh würde sich nie ein Bild von Caravaggio an die Wand hängen, ein Mensch schon, so er oder sie das nötige Kleingeld dazu hätten. Also sagt das Wort Kunst eine ganze Menge über uns Menschen aus, oder nicht? Über unsere Sehnsucht, wenn wir schon sterblich sind und uns das bewusst ist, wenigstens ein Bild, ein Lied, ein rotes Fahrrad mit einer gelben Sonnenblumenklingel zu hinterlassen. Sie werden jetzt die Nase heimlich rümpfenüber die Trivialität dieser Vergleiche. Die Seele? Das Sammelbecken aller ungelöster Probleme und Konflikte unserer Spezies? Und was die Liebe angeht : Sex, Macht und Geld. Da kommt die Kunst gerade recht, um dem Chaos des menschlichen Lebens ein bleibendes Denkmal zu setzten, mindestens genausogroß wie manche steinernen Kreuze auf den Mausoleen. Kunst als schaurig-schönes Symbol des Vergänglichen.

    Ohne Kunst ist alles nichts! Wir Menschen werden uns in 2000 Jahren immer noch Gedanken machen um sie, Artikel schreiben und Galerien besuchen, weil wir Menschen sind - wenn es uns in 2000 Jahren noch geben sollte, irgendwo im Universum. Ich sage es mit meinen Gedanken, ohne Kunst ist alles Schiß.

    Liebe Grüße an die Wunderbare

  • #2

    Bálint Szabo (Donnerstag, 30 Mai 2019 13:55)

    Toll geschrieben, �