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Nachts in der Stadt der Liebe

Als ich das erste Mal in Venedig aus dem Bahnhofsgebäude trat und von dem überwältigenden Anblick des Canal Grande empfangen wurde, wusste ich, dass diese Stadt mich mit offenen Armen empfangen würde. Mich mit ihren langen fließenden Armen umschlingen und in ihre Tiefen ziehen würde. Doch mehr noch: die Stadt war ich und ich war die Stadt. Sie lag mir offen zu Füssen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Im November. Seither liebe ich den Monat November mit seinen Nebelschwaden und seiner Aufforderung, nach Innen zu gehen.

 

Mit erstaunlicher Leichtigkeit fand ich damals mein Zimmer - etwas, was sich im Laufe der kommenden Tage als nicht ganz so einfach erweisen sollte, gleicht Venedig doch eher einem Labyrinth. Umso mehr, als der Nebel im November häufig durch die Straßen wandert und alles in ein mystisches Ahnen hüllt. Kurz nach Ankunft stand ich auf einer der vielen kleinen Brücken und konnte mich der kraftvollen Atmosphäre von Romantik nicht entziehen. Die ganze Luft, ja, das ganze Sein, war erfüllt von diesem Gefühl. Nächtelang bin ich durch die Stadt gestreift. Wenn abends die vielen Tagestouristen abreisen, beginnt sich die eigentliche Magie dieser Stadt zu entfalten. Dann kehrt Ruhe ein. Der Nebel verbirgt die einzelnen Menschen, die sich bei Dunkelheit noch durch die Stadt bewegen. Und lässt der Fantasie ihren Raum. Die Schritte hallten durch den Nebel. Und ich hatte das Bedürfnis, mich in diese Stadt zu versinken. Sie ein- und wieder auszuatmen.

 

Eines frühen Abends war ich in einer kleinen Bar voller Italiener und sollte einen Moment von Menschlichkeit erleben, den ich mein ganzes Leben lang im Herzen bewahren werde. Ich begegnete dort einem ungewöhnlichen Trio: Ein alter Mann, sicherlich um die achtzig Jahre mit einer Frau und einem Mann um die fünfzig. Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir überhaupt miteinander ins Gespräch kamen, doch zwischen uns entspann sich in unglaublicher Geschwindigkeit ein Gespräch, das in die tiefsten Gründe des Lebens ging. Wir ließen sofort alle Oberflächlichkeiten und Details hinter uns, tauschten uns direkt über die Essenz des Lebens aus: Wir sprachen von Kunst und der Schönheit der Stadt. Wir stießen auf die Liebe an, die wir als einzige Wahrheit deklarierten. Auch und gerade die Liebe zwischen scheinbar fremden Menschen wie uns. Wir waren  vier Personen, die sich plötzlich über das unterhielten, was das Leben in seinem Innersten zusammenhält.

 

Bald stellte sich heraus, dass wir alle irgendwie in der Kunst- und Kulturszene heimisch waren. Die Frau war Laien-Schauspielerin. Mit ihr sollte ich am nächsten Tag den ersten italienischen Schauspiel-Unterricht meines Lebens erhalten. Der mittelalte Mann hingegen war mir erst etwas suspekt, fürchtete ich mich vor unerwünschten Annäherungsversuchen. Doch schnell merkte ich, dass ich nichts zu befürchten hatte. Er war eine Art Assistent des alten Künstlers. Dieser wiederum arbeitet mit Murano-Glas und fertigte Kunstwerke aus dem zerbrechlichen Material an. Er war ein erfolgreicher Künstler und hatte bereits gemeinsam mit Pablo Picasso ausgestellt.

 

Ganz beflügelt und irgendwie ineinander verliebt teilten wir viele tiefsinnige Gedanken miteinander, bis die drei sich verabschiedeten. Wir hatten keine Adressen ausgetauscht, es war einfach dieser eine Moment einer wunderbaren Begegnung. Das war uns allen bewusst. Ich blieb noch, um in Ruhe mein Glas auszutrinken. Dankbar sinnierte ich der Begegnung nach. Wie erstaunlich, dass die italienische Sprache, der ich mehr oder weniger mächtig bin, aus mir herauszufließen schien. Unerwartet, vom Leben reich beschenkt, sind wir vier Menschen ohne Erwartungen und Ansprüche aneinander in ein wunderschönes Gespräch verfallen. Das macht für mich Leben aus. Genau solche Begegnungen.

 

Während ich noch so dem Erlebten nachspürte, sah ich auf einmal meine drei neuen Bekannten wieder vor dem Fenster der Bar stehen. Sie winkten mir zu, bedeuteten mir etwas. Dann kam sie alle wieder in die Bar, um mir mitzuteilen, dass sie noch Spaghetti essen würden - im Haus des Alten. Und dass sie mich dazu einladen wollten. Sie sind auf ihrem Weg umgekehrt, um mich zu holen, weil sie gemerkt haben, dass wir zusammengehören - für diesen Abend. Dass ihr Gespann irgendwie unvollkommenen war, wäre ich nicht dabei. Und es war so. Wir gehörten für diesen Abend zusammen. Also ging ich ohne einen Zweifel mit. Folgte genauso dem Impuls wie sie ihm gefolgt waren. Und tauchte in eine ganz besondere, den Touristen verborgene Welt ein. Der alte Künstler stammte - wie alle seine Vorfahren - aus Venedig. Er war irgendwie Venedig, mit seinem Murano-Glas. Genauso wie auch ich damals für einen Moment Venedig war.

 

Zu viert zogen wir durch die Gassen an Kanälen vorbei, ich wusste schon längst nicht mehr, wo wir eigentlich waren. Vor einem alten Haus blieben wir stehen und klingelten die Frau des alten Künstlers aus dem Bett. Die alte Dame wachte auf und öffnete uns die Türe zu ihrer magischen Welt. Wir stiegen die enge Stiege hoch - das untere Stockwerk sei öfter vom Wasser überflutet - deshalb lagen dort palettenähnliche Bretter übereinander gestapelt. An jenem Abend war jedoch alles trocken. An den Wänden der schmalen Treppe hingen links Unmengen von Kunstwerken. Darunter nicht nur des Künstlers eigene, sondern - wie der alte Künstler nebenbei kurz erwähnte - auch die seines Freundes Pablo Picasso. Ganz im Dunkeln. Verborgen irgendwo in den Gassen Venedigs. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. In was für eine Welt war ich hier geraten? Alles erschien mir unwirklich. Und doch war dies die Wirklichkeit. Meine ganz eigene Erfahrung mit und in Venedig.

 

Die alte Dame des Hauses ging in die Küche, um für uns Spaghetti al olio zu kochen. Vielleicht das einfachste Gericht der Welt, das niemals zuvor oder danach je besser geschmeckt hat. Und dann saßen wir - nun zu fünft - um den runden Küchentisch, mitten in der Nacht, und aßen die Spaghetti mit Knoblauch und Öl und tranken dazu Rotwein. Wir, zwei Achtzigjährige, zwei ungefähr Fünfzigjährige und ich - damals Mitte dreißig. Drei Generationen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Sprachen. Wir unterhielten uns - über alle Unterschiede hinweg - über das Leben, über Kunst, über Venedig, über Picasso, über die Liebe, über Kulturen und Sprachen. Ich erinnere mich kaum noch an die Details und Inhalte des Gesprächs, doch was nach all diesen Jahren immer noch wirkt, ist die Verbundenheit, die wir in diesem Moment miteinander erlebten. Wir wildfremden Menschen. Eine Verbundenheit, die man ganz einfach Liebe nennen kann. Unsere Begegnung war bestimmt von einer gegenseitigen Offenheit und einem Verständnis füreinander. Ein runder Tisch. In einem ganz besonderen Haus in Venedig, dunkel, verborgen - häufig von Wasser überflutet, vielleicht wie eine Höhle. Voller wertvoller Kunstwerke. Und voller Liebe.

 

Meine erste Begegnung mit Venedig - ein unvergessenes Erlebnis. Venedig, Stadt der Liebe. Stadt des Vertrauens und des Lebens. Eine Stadt, die durch das viele Wasser auch an das ständige Fließen des Lebens erinnert. Eine Stadt, umschlungen von Kanälen und voller Arme, die den Fremden bereit sind aufzunehmen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Robert (Samstag, 21 Dezember 2019 08:05)

    Eine sehr schöne Geschichte...

  • #2

    Zeilenflug (Donnerstag, 26 Dezember 2019 05:30)

    Eine Liebeserklärung an das Jungsein, geborgen in den alten, nassen Armen der Serenissima. Ich weiss nicht, was das letzte Wort bedeutet, denn ich spreche kein Wort Italienisch. Eine Frau schreibt, und sie schreibt Betörendes. Ihre Gedanken reisen um die Welt; was ist ihr Motiv? Fantasie ist der Reiseführer in das Unbekannte, das Verlockende, Magische, Anziehende. Ihr Motiv - das der Frau -, ist ihre Liebe.